Tanzsporteltern mit Herz und Seele: Utku und Gökce Bayraktar talentierter nachwuchs S echs Jahre zuvor. Utku Bayraktar, der vor über zehn Jahren aus beruflichen Gründen aus seiner deutschen Heimat ins Ausland ging, lebt 2018 mit seiner Ehefrau Gökce und seinem Sohn Yigit in der Türkei. Der ist gerade acht Jahre alt und auf der Suche nach einer Sport- art, die zu ihm passt. „Es war uns wichtig, dass er Sport macht, aber welche Disziplin er sich aus- sucht, war uns im Grunde egal. Deshalb haben wir ihn alles ausprobieren lassen, was er gerne machen wollte.“ Als schließlich eine von Yigits Grundschullehrerinnen den Vorschlag macht, den Jungen, der zu tanzen beginnt, sobald irgend- wo Musik erklingt, in einen Tanzsportkurs zu schicken, stimmen beide Eltern sofort zu. Aller- dings ohne so ganz genau zu wissen, was mit Tanzsport eigentlich gemeint ist. AUF UNBEKANNTEM TERRAIN „Wir hatten eher Hip-Hop oder andere solcher modernen Sachen im Kopf. Ich hab‘ gedacht, es wäre vielleicht so etwas wie Zumba, wo man Mu- sik hört und sich dazu bewegt“, erinnert sich Utku Bayraktar schmunzelnd zurück. Erst, als er und seine Frau zu einem Termin in der Tanzschule eingeladen werden, um zu beraten, wie ihr un- glaublich talentierter Sohn am besten weiter ge- fördert werden kann, folgt die Erkenntnis, dass Yigit sich den Standard- und lateinamerikani- schen Tänzen verschrieben hat – einer Sportart, die für seine Eltern absolutes Neuland darstellt. „Wir haben uns da komplett leiten lassen, denn wir sind der Überzeugung, dass wir als Eltern unsere Kinder bei dem unterstützen müssen, was sie tun möchten, sei es beruflich oder im Hinblick auf ihre Talente. Es geht nicht darum, wo wir sie gerne sehen würden. Ich glaube, dass Träume da sind, damit sie realisiert werden kön- nen.“ Und Yigits Träume wachsen mit der Anzahl seiner sportlichen Erfolge. Spätestens, als er Türkischer Meister wird, ist klar, dass die tanzsportlichen Möglichkeiten, die das Geburtsland des Jungen bieten, bald ausge- schöpft sind. „In der Türkei ist der Tanzsport noch recht neu, daher gab es dort nicht wirklich eine Zukunft für ihn. Wir mussten also entscheiden, was das Beste für ihn ist.“ Die Familie informiert sich ausgiebig, zieht mehrere Optionen in unter- schiedlichen, zumeist europäischen Ländern in Erwägung und entschließt sich am Ende für ein neues Leben in Deutschland. Zum einen, weil Yigit neben der türkischen auch schon die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Zum anderen, weil Trainer Roberto Albanese und mit ihm der GGC Bremen alle Hebel in Bewegung setzen, um Yigit und seine Familie ins kleinste Bundesland der Re- publik zu holen. „Der Verein wollte ihn unbedingt haben und hat sich stark dafür eingesetzt, dass alles funktioniert. Dieser Support war einer der Hauptgründe dafür, dass wir hierhergekommen sind.“ Ein weiterer dicker Pluspunkt, der für Bre- men spricht: die Möglichkeit, an der Oberschule an der Ronzelenstraße, einer Eliteschule des Sports, aufgenommen zu werden, die im spä- teren Verlauf von Yigits tänzerischer Karriere noch eine entscheidende Rolle spielen wird. Aber immer der Reihe nach … EIN BISSCHEN HARAKIRI Vier Jahre zuvor. Das Jahr 2020 hat gerade begon- nen, als der Umzug der Bayraktars bereits ange- laufen, aber noch nicht abgeschlossen ist. Dann tritt plötzlich und unerwartet die Coronapandemie auf den Plan. „Es war schon ein bisschen Hara- kiri, was wir da gemacht haben“, beschreibt Utku Bayraktar den denkbar ungünstigsten Zeitpunkt für das ohnehin schon abenteuerliche Unterfan- gen. Als mit dem ersten Lockdown das gesell- schaftliche Leben auf der ganzen Welt stillgelegt wird, befinden Yigit und er selbst sich bereits in Deutschland, während Mama Gökce und Yigits einjähriger kleiner Bruder Mert auf unbestimmte Zeit in der Türkei festsitzen. „Sechs Monate waren wir am Ende voneinander getrennt, das war schon eine Teufelsaktion.“ Auch der neuen und vielversprechenden Tanzpartnerschaft mit der in Litauen lebenden Lukrecija Kuraite wirft das weltweit grassierende Virus einen ziemlich dicken Stein in Form von Rei- se- und Kontaktbeschränkungen sowie Quaran- täneverordnungen in den Weg. Dass das Projekt trotzdem gelingt, ist mehreren Faktoren zu ver- danken. Dazu gehört neben der Unterstützung durch Trainer und Verein auch die Flexibilität, die Yigits neue Schule damals wie heute an den Tag legt. „Die Schulleitung hat extrem viel mitge- macht und sich in jegliche Richtung angepasst, da kann ich wirklich nur Danke sagen“, resümiert Utku Bayraktar diese einzigartige Unterstützung für Yigit und den Tanzsport in Deutschland. Ein weiterer wichtiger Baustein für die zahlrei- chen Erfolge, die die Kids in den nächsten Jahren einfahren werden: ihre Familien, die unerschüt- terlich hinter ihnen stehen. „In gewisser Weise leben beide Familien zusammen, denn entweder kommt Lukrecija mit Begleitung zu uns oder wir fliegen rüber und leben eine Zeitlang dort“, gibt Utku Bayraktar einen Einblick in den ungewöhn- lichen Alltag, für den es neben den entsprechen- den Rahmenbedingungen, beispielsweise einer Möglichkeit zum Homeoffice, auch ein hohes Maß an Vertrauen brauche: „Während Corona hat Yigit beispielsweise fünf Monate ununterbrochen in Litauen gelebt. Das eigene Kind zwischenzeitlich einer anderen Familie anzuvertrauen, ist sicher nicht jedermanns Sache.“ VON GÄNSEHAUTMOMENTEN UND VERANTWORTUNG Heute. Als das Jahr 2023 zur Neige geht, haben Yigit und Lukrecija dank ihres Talents, ihrer eiser- nen Disziplin, ihrer harten Arbeit und der Rücken- deckung, die sie von allen Seiten aus erhalten, unter anderem zwei Deutschland-Cups (Latein und Standard) vier Deutsche Meisterschaften (zweimal Standard, zweimal Kombination), eine Weltmeisterschaft und ein GOC-Turnier (jeweils Ten Dance) gewonnen und haben zuletzt die Sil- bermedaille bei der Standard-WM geholt. Wie sich das für Yigits Vater, der gleichzeitig sein größter Fan ist, anfühlt? „Das Gefühl ist so gut, dass ich es gar nicht beschreiben kann.“ Insbesondere den Moment, als sein Sohn zu Hause in Bremen den WM-Titel holte, werde er niemals vergessen. „Als Yigit zum ersten Mal die ÖVB-Arena sah, hat er gesagt, dass er hier ein- mal Weltmeister werden möchte. Und zu erleben, wie das eigene Kind nur drei Jahre später und in so jungen Jahren vor diesem riesigen Publikum, einer bebenden Halle und in einer Atmosphäre, bei der ich heute noch Gänsehaut kriege, wenn ich daran denke, dieses Ziel erreicht: Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass ich in meinem Leben jemals so viele Emotionen hatte.“ Gleichwohl sei er sich bewusst, dass die steile Karriere seines Sohnes für ihn als Vater auch eine Menge Verantwortung mit sich bringe. „Man muss bei Kindern in dem Alter, die auf so einem Höhenflug sind, immer für Rekorde sor- gen und im Grunde genommen zehn Monate im Jahr unter Dauerstrom stehen, darauf achten, dass sie realistisch bleiben.“ Beide Familien, aber auch das Trainerteam, seien darum bemüht, den Youngsters ein Verständnis dafür zu vermit- teln und dafür zu sorgen, dass sie den Heraus- forderungen, die ihnen gestellt werden, nicht nur tänzerisch und physisch, sondern auch mental gewachsen sind. Dabei helfe auch der Umstand, dass „wir das Glück haben, dass beide Kinder sehr bescheiden und vom Kopf her viel reifer sind als andere Kinder in dem Alter.“ ALLES RICHTIG GEMACHT Rückblickend betrachtet sei der Weg bis hierher alles andere als einfach gewesen. Ihn zu gehen, war trotzdem die richtige Entscheidung, meint Utku Bayraktar. „Wir haben viel dafür geopfert, aber wenn man dazu nicht bereit ist, klappt es auch nicht. Die Kinder tanzen jetzt im vierten Jahr miteinander und bis heute funktioniert es, trotz all der Hürden, die wir schon überspringen muss- ten.“ Für Eltern eines Ausnahmetänzers wie Yigit sei es vor allem wichtig, im Kopf flexibel zu blei- ben und sich an die unterschiedlichen Begeben- heiten anzupassen. „Wir lernen immer weiter dazu und wachsen mit den Kindern in die Situa- tionen hinein.“ Ein Prozess der allen Beteiligten viel abverlange, der aber dazu führt, dass Yigit Bayraktar seinen Traum vom Weltmeistertitel wahrmachen konnte. Wiederholung(en) nicht aus- geschlossen. ■ Sandra Schumacher tanzspiegel II–24 49